Digitale Verwaltung für die Demokratie – #106
Die Diskussion um die 5.000 Stellen für die Kindergrundsicherung stört mich ganz schön. Denn sie lenkt von grundsätzlichen Problemen unseres (Sozial-)Staates ab.
Hallo!
Ich hoffe, Ihr genießt das (eigentlich zu warme) Frühlingswochenende mit viel Sonnenschein! Ich habe Euch in dieser Ausgabe vor allem einen langen Text reingepackt, den ich gestern bereits auf LinkedIn veröffentlicht habe. Er behandelt ein Thema – aber auch nur einen Aspekt davon – das gerade sehr in mir arbeitet: Welche Bedeutung hat eigentlich die Verwaltungstransformation für unsere Demokratie und unsere Gesellschaft? Ich glaube, wir unterschätzen das enorm. Wir reden aus guten Gründen über die Bedrohungen für unsere Demokratie durch Rechtsextremismus oder auch die Klimakatastrophe. Was bedeutet es aber, wenn unser Staat als solches nicht mehr oder nur noch schleppend funktioniert? Dazu findet Ihr jetzt am Beispiel der Diskussion um die 5.000 Stellen für die Kindergrundsicherung einen Text von mir. Diskutiert gerne auf LinkedIn (Link am Ende) mit – oder unter diesem Substack-Post. Ich bin gespannt auf Eure Gedanken.
Falls Ihr übrigens Lust habt, an diesen Themen und dann auch noch mit mir zu arbeiten – ich habe gerade bei NExT zwei Stellen ausgeschrieben. Noch bis zum 14. April kann man sich als Projektmanager:in oder Projektassistenz bewerben. Alle Infos zu den Stellen gibt es hier. Ich würde mich sehr freuen, wenn Du nicht nur diese Stellen, sondern auch diesen Newsletter mit Deinem Netzwerk teilst
Und nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen!
Ann Cathrin 🌱
Was mich an der Diskussion um 5.000 Stellen für die Kindergrundsicherung stört. Unsere Demokratie hängt von der Verwaltungstransformation ab
63 Prozent der öffentlich Beschäftigten halten den Staat, für den sie arbeiten, für überfordert1. Bis 2030 könnten dem öffentlichen Dienst ohne Gegenmaßnahmen über eine Million Fachkräfte fehlen2. Das sind ein Fünftel der heute Beschäftigten. In allen anderen Bereichen, insbesondere der Wirtschaft, haben wir erkannt, dass es durch den demografischen Wandel einen eklatanten Fachkräftemangel gibt; dass wir nicht mehr in der Lage sind, Stellen zu besetzen. Bei politischen Vorhaben und der öffentlichen Diskussion darüber, scheint dieser demografische Wandel und der Fachkräftemangel jedoch keine Relevanz zu haben. Da werden 5.000 neue Stellen zur Umsetzung der Kindergrundsicherung gefordert und die Diskussion beschränkt sich darauf, ob diese Anzahl der Stellen sinnvoll ist oder nicht – nicht darüber, ob wir überhaupt in der Lage wären, diese zeitnah zu besetzen und ob Staat im Jahre 2024 nicht anders funktionieren sollte, als durch Neueinstellung von Sachbearbeiter:innen.
Dass 63 Prozent der öffentlich Beschäftigten den Staat nicht mehr für leistungsfähig halten, ist kein Bauchgefühl der Befragten. In Stuttgart mussten Menschen vor den Ausländerbehörden campieren, um einen der wenigen Terminslots zu bekommen3. Behörden sind schlichtweg überlastet, Menschen bewerben sich weg, sind wegen Burnout krankgeschrieben oder nehmen ihren wohlverdienten Urlaub. Auf die freien Stellen bewirbt sich niemand. In Sachsen protestieren noch vor der zunächst geplanten Streichung der Agrarsubventionen die Bauern, da Software nicht rechtzeitig angepasst werden konnte, um ihnen ihre EU-Gelder pünktlich zum 1. Januar auszuzahlen4. Dann, wann ihre Pacht und Versicherungen fällig werden und sie das Geld brauchen. Das Gesetz zur Ersatzfreiheitsstrafe konnte nicht wie eigentlich geplant zum 1. Oktober 2023 umgesetzt werden, da die Softwareanpassungen sich länger hinzogen5.
Das alles sind keine Kleinigkeiten. Insbesondere nicht für die betroffenen Menschen und es ist nur ein kleiner Ausschnitt von Dingen, die nicht oder zu langsam gehen, weil Personal fehlt und die Transformation unserer Verwaltung, hin zu modernen Behörden, die digital arbeiten, zwanzig Jahre hinterherhinkt.
An der Modernisierung unserer Verwaltung hängt auch der Glaube an die Demokratie
Schaut man in der genannten Studie des Deutschen Beamtenbundes ein paar Zeilen höher, erfährt man, was eigentlich die Bürger:innen über die Leistungsfähigkeit des Staates denken. Sie ist nicht überraschend mit 69 Prozent noch schlechter und über die Jahre ist dieser Wert gestiegen. Was bedeutet es für unser demokratisches System, wenn Menschen nicht mehr an die Leistungsfähigkeit dieses Staates glauben? Die Transformation unserer Verwaltung ist nichts, was nice-to-have ist. An hier hängt der Glaube an und das Vertrauen auf einen leistungsfähigen Staat, der mir unkompliziert die Leistungen bereitstellt, die ich brauche und die ich beanspruchen möchte.
Der Normenkontrollrat hat in seiner jüngsten Studie, durchgeführt von Deloitte, die Komplexitätsfalle unseres Sozialstaates umfassend dargestellt6. In der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. März 2024 wurde anhand eines Beispiels dargelegt, was diese Komplexität für Leute bedeuten kann7: Menschen, die eh schon wenig haben, müssen nicht nur zu enorm vielen Anlaufstellen, sie leben auch immer in Sorge, dass sich komplexe Berechnungsgrundlagen ändern und sie Gelder zurückzahlen müssen. Gelder, die sie bekommen, weil es sonst nicht zum Leben reicht.
„In dem Beispielfall ist es heute so: Der Haushalt erhält Kindergeld und Kinderzuschlag bei der Familienkasse, Wohngeld und Leistungen für Bildung und Teilhabe der Kinder beim Wohngeldamt, Arbeitslosengeld von der Arbeitsagentur, Sozialhilfe und Hilfe zur Pflege beim Sozialamt. Daneben gibt es Leistungen von Kranken- und Pflegekasse. Und Absetzung der Kinderbetreuungskosten sowie den Alleinerziehendenfreibetrag beim Finanzamt.
Noch umständlicher ist die Abwicklung durch die vielen Ämter. Denn die Höhe einer Hilfe hängt oft von der Höhe einer anderen ab, die sich wiederum nach dem individuellen Einkommen richtet. Obendrein sind wichtige Prüfkriterien je nach Sozialleistung im jeweiligen Gesetz unterschiedlich definiert. Ergebnisse der einen Antragsprüfung lassen sich dann schlecht zur Klärung anderer Ansprüche nutzen.
Für die 12 Leistungen im Musterfall seien „mindestens vier verschiedene Einkommensbegriffe und drei verschiedene Begriffe der häuslichen Lebensgemeinschaft anzulegen", zeigt die Studie. Und sollte „ein künftiges Arbeitseinkommen des Vaters über der Freigrenze liegen und schwankend sein, ist die Berechnung monatlich neu vorzunehmen". Zudem drohten ihm Rückforderungen durch die Wechselwirkungen zwischen den Leistungen.
Das Beispiel ist extrem, verdeutlicht damit aber die tieferliegenden Probleme, um deren Lösung es dem Normenkontrollrat und den Gutachtern geht: Der Sozialstaat hat einen riesigen Verwaltungsaufwand, er braucht enorm viel Personal allein fürs Be- und Abrechnen von Leistungen. Aber Bedürftige werden oft eher überfordert als zufriedengestellt. Außerdem steht der Wirrwarr von Regeln und Zuständigkeiten dem Ziel im Weg, den Aufwand durch Digitalisierung zu senken. Und selbst eine Supersoftware löste nicht das Problem, dass die fachlich und föderal verzweigten Behörden oft unterschiedliche IT-Systeme mit inkompatiblen Schnittstellen nutzen.“
Wer also das – wie ich finde richtige – politische Ziel verfolgen will, Kinderarmut zu bekämpfen und Menschen die Leistungen zukommen lassen will, die ihnen zustehen, der kann – und darf! – sich nicht an den 5.000 Stellen für die Familiencenter aufhalten. Denn das Festhalten hieran verkennt die Realitäten des Arbeitsmarktes – 5.000 Stellen lassen sich zudem nicht über Nacht besetzen, selbst wenn es die qualifizierten Arbeitskräfte gäbe (und hier haben wir noch nicht über die Anforderungen des TVÖD an die formalen Qualifikationen gesprochen!) –, und es verkennt, dass die Komplexität unseres Sozialsystems ein enormes Problem darstellt. Und da stimme ich mit dem NKR überein: Es darf bei einer Komplexitätsreduktion nicht darum gehen, Sozialleistungen zu kürzen. Es muss darum gehen, den Staat wieder handlungs- und leistungsfähiger zu machen. Dazu gehört auch, die Einzelfallgerechtigkeit, die nicht nur in Deutschland zu enormen Verzögerungen führt (vgl. Jennifer Pahlka “Recoding America. Why Government is Failing in the Digital Age and how we can do better”), abzuschwächen und zu pauschalen Bewilligungen zu gelangen. Dafür ist auch zu plädieren, weil die Komplexität unserer Sozialleistungen einfach nicht mehr abbildbar ist – weder auf einem Blatt Papier, noch digital.
Unsere Sozialleistungen und die Ansprüche darauf, sind mittlerweile so komplex und kompliziert, dass ich keine Person persönlich kenne, die keine Probleme beim Stellen von Elterngeldanträgen hat. Wohlgemerkt alles Akademiker:innen, teilweise Volljurist:innen. Was bedeutet es für unsere Demokratie und Gesellschaft, wenn Bürger:innen nicht mehr selbstständig verstehen (können), was ihnen zustehen könnte und was nicht? Was bedeutet es, wenn Menschen nicht von Zuhause aus ihre Leistungen beantragen können, weil sie sich nicht trauen zu einem Amt zu gehen oder Krankheiten und Behinderungen sie gar davon abhalten? Was bedeutet es, wenn Menschen auf Gelder zum Überleben angewiesen sind, der Staat sie aber wegen Personalmangels und überaus komplexer Prozesse und Überprüfungen nicht rechtzeitig auszahlen kann?
Verwaltungsdigitalisierung muss in die breite öffentliche Diskussion
Vor wenigen Wochen wurde das Onlinezugangsänderungsgesetz (OZG 2.0) vom Bundesrat gestoppt. Eine Diskussion im Parlament gab es nicht. Nicht nur die Bremse dieses Gesetzes schockierte mich (ein Vermittlungsausschuss ist bisher nicht angerufen worden), sondern auch, dass keine Begründungen der Ablehnung im Bundesrat diskutiert wurden. Ebenso, dass danach auch nur kurz und mit recht wenig Aufmerksamkeit berichtet wurde.
Alle politischen Parteien fordern eine digitale Verwaltung. Nahezu alle Bürger:innen wollen eine digitale Verwaltung für ihre Anliegen. Interessieren tun sich für die Umsetzung dann aber doch zu wenige. Vielmehr wird nicht erkannt, welche Bedeutung diese Generationenaufgabe einer Transformation für uns als Gesellschaft und demokratischen Staat hat. Wir können es uns nicht mehr leisten, politische Diskussionen wie zu Bonner-Republik-Zeiten zu führen und meinen, wir lösen unsere politischen Probleme und Herausforderungen der Verwaltung mit mehr Personal. Das ist schlicht nicht da und der Anspruch an Verwaltung hat sich ebenfalls geändert.
Amy Webb kritisierte jüngst in der Süddeutschen Zeitung den fehlenden Willen der deutschen Wirtschaft, sich zu verändern8. Das scheint nicht nur für die Wirtschaft zu gelten, sondern auch für uns als gesamte Gesellschaft. Wir müssen lernen, anders zu denken, wie politische Maßnahmen in Verwaltungshandeln umgesetzt werden können. Machen wir weiter wie bisher, lähmt uns nicht nur die bis dahin noch größer gewordene Komplexität komplett, es werden auch nicht mehr genügend Leute in den Verwaltungen sitzen, die die Komplexität dank ihrer jahrelangen Verwaltungserfahrung verstehen und anwenden können. Verwaltungsdigitalisierung und -transformation muss viel stärker auf unsere gesellschaftliche und politische Agenda. Davon hängt die Zukunft unseres Gemeinwesens und unserer Demokratie ab. Es campierten schon genügend Leute vor Ämtern.
Falls Ihr Lust habt, über diesen Text zu diskutieren, tut es gerne auf LinkedIn.
Die Amazon-KI im komplett digitalen Supermarkt ist eigentlich ein Mensch in Indien
Man hört es nicht zum ersten Mal, dass eine fancy KI gar keine fancy KI ist, sondern heimlich von Menschen bedient wird. Das gab es schon bei Chatbots, wir “sehen” unsichtbare Arbeit von Menschen bei der Moderation von Inhalten auf Social-Media-Plattformen und nun kam eben raus, dass in den vermeintlichen Hightech-Supermärkten von Amazon doch keine KI kontrolliert, was Du in Deinen Einkaufswagen packst, sondern eintausend Inder:innen in Indien.
Eine Verlagerung von Jobs hin zur KI findet also nicht statt. Vielmehr entstehen “Bullshitjobs”. Und es werden auch nicht weniger Menschen gebraucht – eher mehr, denn die Menschen, die diese “Bullshitjobs” tun werden von weiteren Menschen beaufsichtigt. Das scheint ganz ähnlich wie das in einer vorherigen Newsletter-Ausgabe beschriebene Problem beim autonomen Fahren zu sein: es braucht mehr Menschen, nicht weniger (sofern es denn überhaupt funktioniert).
Buchtipps
Die Demokratie geht auf ihr Ende zu – das ist die These dieses bemerkenswerten Buchs von Veith Selk mit dem Titel “Demokratiedämmerung”. Das Aufkommen des Rechtspopulismus könnte ein Anzeichen dafür sein. Die immer komplizierteren demokratischen Verfahren und ausgelagerten Strukturen zur Entscheidungsfindung werden von immer weniger Menschen verstanden. Das verletze wichtige demokratietheoretische Prinzipien.
Was mir nicht bewusst war: wie viele Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und können – in der Theorie der Demokratie erwarten wir aber von allen, dass sie sich umfassend mit politischen Diskussionen beschäftigen (können). Äußerst interessant fand ich auch die Ausführungen zur Partizipationsaristokratie, die ich besonders im Berliner Linksliberalen Milieu beobachte: mehr Partizipation führt nicht zu mehr Demokratie, da sie in hohem Maße sozial selektiv ist.
Allerdings wird gerade hier regelmäßig von neuen Gremien oder Petitionsformaten (Olympiastadion!) gesprochen. Diese „partizipativen Governance-Arrangements“ bestünden aus Menschen, die das Selbstbild eines Bürgers pflegen, der besser ist als die normale Wahlbürgerschaft. Zudem würde die Forschung zeigen, dass die Ausweitung politischer Partizipation zu einer steigenden sozialen Ungleichheit bei Abnahme der Wahlbeteiligung unterer Schichten und damit zur Vertiefung politischer Ungleichheit führe, da sich vor allem akademische und sozioökonomisch bessergestellte Personen beteiligen.
Ein anderer Buchtipp ist “Hamas. Herrschaft über Gaza. Krieg gegen Israel” von Joseph Croitoru. Von ihm habe ich bereits “Al-Aqsa oder Tempelberg” empfohlen. Es ist wieder ein äußerst detailliertes Werk, aber dennoch sehr gut lesbar. Man merkt hier wieder, dass Croitoru Historiker ist. Er liefert eine Geschichte der Hamas, eingebettet in die Geschichte der Palästinenser und in das Verhältnis zu Israel. Das Buch zeigt die zahlreichen innerpalästinensischen Konflikte und wie die Hamas die eigene Bevölkerung in Gaza unterdrückt und indoktriniert. In den letzten Kapiteln behandelt Croitoru den 7. Oktober und wie es zu dem terroristischen Überfall auf Israel kam. Das Buch überzeugt, wie schon das vorherige, durch seine Nüchternheit.
Und sonst noch…?
Das schmelzende Eis der Arktis lässt es zu, dass neue Wege für Internetkabel gefunden werden. Weil es bisher nicht möglich war durch das dicke es zu kommen, es “dank” der Klimakrise aber immer weiter schmilzt gibt es nun neue Möglichkeiten Kabel zu verlegen, die auf sichereren Routen sind. Ich erinnere an die Sprengung durch die Huthis im Roten Meer. Mir wärs lieber, das Eis bliebe da.
Autoritäre Regime nutzen die internationale Ordnung zu ihren Gunsten. Die ITU hat zugunsten von Iran geurteilt. Denn dort benutzten Regimegegner Elon Musks Starlink Satelliten, um Zugang zum Internet zu erhalten. Iran hatte vor der ITU argumentiert, dass eine ihrer Regeln besagt, dass Telekommunikationsservices nur mit der Erlaubnis der nationalen Regierung in einem Staat agieren dürfen. Das iranische Regime hat Starlink diese Erlaubnis nicht erteilt. Die USA bringt das in eine blöde Lage, denn sie hatten extra Sanktionen gelockert, damit Regimegegner Starlink in Iran nutzen können – nun forderte die ITU sie (und Norwegen) auf, den Zugang zu Starlink in Iran einzustellen.
Und nochmal nach Indien: War ds Land bislang dafür bekannt, dass IT-Expert:innen von dort in alle Welt zogen und wir sie auch heute noch gerne in Deutschland hätten, dreht sich nun die Tendenz um. Die indischen IT-Expert:innen bleiben in ihrem Land.