Freiheit im Netz durchdekliniert — Issue #84
Hier in diesem Newsletter versuche ich es ja von Beginn an: anhand von Beispielen aus aller Welt durchzudeklinieren, was Freiheit im…
Hier in diesem Newsletter versuche ich es ja von Beginn an: anhand von Beispielen aus aller Welt durchzudeklinieren, was Freiheit im Digitalen, im Internet eigentlich genau bedeutet. Schließlich sind sowohl Freiheit als auch das Digitale und das Internet so schwer zu fassen. Wie soll man da wirklich spüren, worum es geht? Insbesondere hier in Deutschland, wo wir einen ziemlich hohen Grad an Freiheit haben. Man wird es leider erst immer merken, wenn es zu spät ist. Die ZEIT hat mich gefragt, ob ich nicht einen Gastbeitrag über Freiheit und Digitalisierung schreiben möchte und das habe ich natürlich gerne getan. Und um Freiheit zu erklären, habe ich mich einem Instrument bedient, das ich auch häufig hier oder auf Panels benutze: Ich habe über Pornos geschrieben.
Natürlich nicht nur, es kommen auch zahlreiche Beispiele aus aller Welt im Text vor, die verdeutlichen sollen, warum das alles so wichtig ist. Warum es hierbei auch um Grundsätzliches geht, nämlich unsere Demokratie, und selbstverständlich ist auch Hannah Arendt mit dabei 😊Freue mich über Euer Feedback und wenn Ihr den Text teilt!
Ansonsten bin ich langsam immer mehr mit dem Wahlkampf beschäftigt — sind ja auch keine 100 Tage mehr. Aber ich versuche auch das gute Wetter zu genießen; bin wieder viel draußen — Außengastronomie ❤️
Genießt den Sonntag und startet gut in die neue Woche (die Hälfte von 2021 ist da schon wieder um 🤯)
Ann Cathrin 🐭
— -
Die Arbeit an diesem Newsletter kostet mich einige Stunden an Arbeit. Wenn er Dir gefällt, kannst Du mich gerne mit monatlich 3,50, 5 oder 10 Euro über Steady unterstützen. Ich würde mich freuen, danke!
WHAT TO KNOW
Internetzensur verwirkt Lebenschancen. Das ist, wie ich in meinem Gastbeitrag für die Zeit versucht habe zu beschreiben, hier einfach viel zu wenig Thema und Internetzensur, mangelnde Freiheit im Digitalen wird mit Schulterzucken goutiert. Nigeria ist gerade wieder ein drastisches Beispiel, was eine “bloße” Twittersperre für die Menschen dort bedeutet. Die Nutzung und Bedeutung von Twitter (und anderen Webseiten, Plattformen) in Deutschland mit der Bedeutung in anderen Ländern zu vergleichen, ist da fatal. Am vergangenen Montag hatte ich für die Friedrich-Naumann-Stiftung ein Panel organisiert, auf dem auch Eniola Mafe aus Nigeria war, die berichtete, dass wahnsinnig viele Unternehmen von Twitter abhängig sind, denn sie nutzen das Netzwerk als Verkaufskanal. War mit nicht bewusst — wie vermutlich vielen. Aber auch die “klassische” Bedeutung von Twitter, einen Raum zu bieten, um sich Gehör zu verschaffen und sich mit anderen Freiheitskämpfer:innen zu vernetzten oder Gleichgesinnte zu finden, gerade wenn man einer marginalisierten Gruppe angehört.
“This has become a space for shared opportunities, a place to call against the violation of our rights, to provide emotional support, etc.,” explained PR consultant and activist Ebele Molua. “We struggle to find an outlet to sustain ourselves in a society that doesn’t care about the human rights and the progressiveness of marginalized groups.”
Die Sperre Twitters im ganzen Land erfolgte, weil Twitter einen Tweet des Machthabers gelöscht hatte, da dieser gegen die Twitter-Regeln verstoßen habe. Auch in Indien sehen wir gerade extrem, wie das eigentlich demokratische Land, das mehr und mehr unfrei wird, Twitter und andere Social-Media-Plattformen missbraucht, um Minderheiten und Journalist:innen mit Repressalien zu belegen. Indien hat ein Gesetz, nach dem Plattformen Inhalte runternehmen müssen, die die öffentliche Ordnung stören. Die Plattformen sind manchmal standhaft und weigern sich, da die Löschung der Inhalte gegen die Menschenrechte verstoßen würde, da es sich bei den Äußerungen um legitime Kritik an der Regierung handle und so von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. In einem aktuellen Fall wird gegen Journalist:innen ermittelt, weil sie ein Video teilten, auf denen ein muslimischer Mann verprügelt wird.
In a statement to TIME, the Uttar Pradesh state government said a police inquiry had shown the victim had not been forced to chant any religious slogan, and that the victim and the accused were known to each other. Police had opened the investigation into people who shared the video “to prevent communal polarization and avert any untoward incident,” the statement said. Those named in the investigation, it said, were “people who had launched an agenda driven distorted and baseless campaign against UP Government, a media house and … Twitter India.”
The Nigerian Government Banned Its Citizens From Using Twitter, And The Consequences Are Steep — www.buzzfeednews.com
Noch ein anderes konkretes Beispiel, warum Freiheit im Netz so wichtig ist und Freiheit sich auch durch Anonymität ausdrückt. Gewalt gegen Frauen — sei sie online oder analog oder durch den Online-Auftritt physisch durch Dritte — ist auch hier in Deutschland ein Problem. Die Berliner Zeitung machte dazu jüngst eine Themenwoche — in einem Artikel komme auch ich zu Wort. Aber auch hier lohnt nochmal der Blick in andere Länder um die Drastik und damit die Bedeutung noch mehr zu verstehen: Immer mehr Frauen in der Welt — so auch im Irak — emanzipieren sich, nehmen an öffentlichen Debatten teil, die eben auch im digitalen Raum stattfinden — gerade weil sie dort die Möglichkeit haben, überhaupt teilzunehmen. Doch in einer patriarchalen Gesellschaft wie natürlich auch der Irak eine ist, sind diese Frauen erheblichen Repressalien und Gewaltandrohungen ausgesetzt. Es ist für sie also lebenswichtig, dass sie sich anonym im Netz und daher auch auf Social-Media-Plattformen bewegen können.
Three Iraqi women explain how and why they stay anonymous online — Rest of World — restofworld.org
Während wenigstens einige sich regelmäßig über neue Überwachungsinstrumente für den Staat aufregen, baut sich schleichend eine Übrwachungsinfrastruktur im Privaten auf. Die — es wundert kaum im vernetzten Zeitalter — auch von der Polizei und Strafverfolgungsbehörden genutzt wird. In diesem Artikel geht es um Türklingeln mit Kamera, verbunden mit dem eigenen Smartphone, sodass man immer sehen kann, wer klingelt, aber auch so aufgezeichnet wird, was vor der eigenen Tür passiert. Bei vielen Verbrechen nutzte die Polizei bereits die Aufnahmen. Ein öffentlicher Raum vor den Haustüren der Wohnhäuser, der kontinuierlich überwacht wird — ganz ohne den Staat.
Vollkommen creepy, die Berichte aus dem Artikel: Nachbarn, die in ihren WhatsApp Gruppen Aufnahmen teilen und sich darüber austauschen, wer die unbekannte Person, die da durch die Nachbarschaft ging, wohl ist. Anonymität ade — vor allem dann, wenn eine geplante Datenbank aufgebaut wird, in der “verdächtige Personen” gesammelt werden sollen und man die eigenen Aufnahmen mit den dort gespeicherten Gesichtern irgendwann abgleichen kann. Dass das auch immer ein erhebliches Problem mit marginalisierten Gruppen mit sich bringt, wundert sicher nicht.
“So if Ring didn’t exist, or Neighbors didn’t exist, and a racist person saw a black guy riding his bike down the street and they thought, ‘Oh, that guy doesn’t live in our neighbourhood,’ they had limited options of what they could do. They couldn’t take to a platform and broadcast it to dozens or hundreds of people.”
Ebenso irre für mich der Abschnitt über einen Mann, der einen fluchenden Briefträger bei der britischen Post meldet — der niemanden wirklich beleidigte, nichts kaputt machte. Wohl einfach nur einen schlechten Tag hatte und dachte, sein Fluchen würde niemand hören; dass er allein sei. Der Besitzer der Überwachungsklingel sendete die Aufnahme an die Post und beschwerte sich. Er kontrolliert, ob Babysitter und Reinigungskraft auch bis zur letzten vereinbarten Minute putzen. Was wird das für eine Gesellschaft, in der wir leben werden? Ganz zu schweigen von der Kontrolle der eigenen Kinder — gehört nicht das heimlich nach Hause schleichen irgendwie zum Erwachsenwerden dazu? Ganz besonders Vertrauen zwischen Eltern und Kind?
I spy: are smart doorbells creating a global surveillance network? | Life and style | The Guardian — www.theguardian.com
„Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert“, sagt der Normenkontrollrat und am Interview mit Rafael Laguna sieht man ganz genau, wie das in der Praxis aussieht. Mit seiner Agentur für Sprunginnovation unterliegt er nicht nur dem Besserstellungsverbot, was unter anderem bedeutet, dass er die Menschen, die er dringend braucht — meist mit einzigartigen Fähigkeiten — nach Tarif bezahlen muss (es bedeutet auch, dass man kein Wasser für seine Mitarbeiter:innen im Winter kaufen darf, aber das ist eine andere Story…). Zwei Ministerien haben die Agentur gegründet — die konnten sich wenigstens einig werden, was sie wollen, nur muss auch immer noch ein drittes, das Finanzministerium mitspielen. Die Agentur scheitert daran, das Geld, das sie hat ordnungsgemäß auszugeben:
Leider ist das kein Luxus, sondern ein Problem, bei dem es um die grundsätzliche Zukunftsfähigkeit des Staates geht. Wir sollen Sprunginnovationen ermöglichen, müssen uns aber bei der Finanzierung von Forschungsprojekten an zahlreiche Verwaltungsvorschriften halten: an die Bundeshaushaltsordnung, ans Vergaberecht, ans EU-Beihilferecht, ans Besserstellungsverbot. All das sind Konstruktionen, mit denen wir ein agiles Handeln des Staates nahezu unmöglich gemacht haben. Während wir alles dafür tun, Paragraf 65 der Bundeshaushaltsverordnung einzuhalten, werden wir von den Amerikanern und Chinesen bei den großen Zukunftsthemen abgehängt.
Das Projekt droht zu scheitern, wenn die nächste Regierung es nicht hinbekommt, dass die Agentur für Sprunginnovation ordentlich arbeiten kann. Ich hoffe wirklich inständig, dass man es hinbekommt und sich nicht wieder mit Zuständigkeiten und Erfolg-nicht-gönnen so vergaloppiert, dass wirklich dringend notwendige Innovationen und damit einhergehender gesellschaftlicher Fortschritt und Wohlstand verhindert werden.
Dass der Staat abstrakt Innovation kann, beweist er ständig. Viele der großen Entwicklungen wie Internet und das Navigationssystem GPS sind durch staatliche Förderungen erst möglich geworden, der Staat muss sogar die großen Risiken eingehen, die sich die Privatwirtschaft nicht leisten kann. Aber wenn der Staat Wissenschaft finanziert, muss auch dafür sorgen, dass sie volkswirtschaftlichen Nutzen stiftet, dass die Translation gelingt. Aber erst durch massive Anfinanzierung können neue Märkte überhaupt entstehen. Auch den unternehmerischen Erfolg von Elon Musk, der ja abgefeiert wird als großer Self-Made-Innovator, würde es ohne Staatsknete nicht geben. Er profitiert von billigen Strompreisen, Solarförderung, CO2-Zertifikaten, der staatlichen Weltraumagentur NASA, dem Militär. All das, wo der Amerikaner den Sozialismus wittert, findet dort statt. Diese Mär vom Turbo-Kapitalismus, wo es der Markt es schon regeln wird, stimmt so also nicht. Gerade für eine technologische Souveränität muss der Staat die Risiken finanzieren.
Innovationen in Deutschland: „Während wir Paragraf 65 einhalten müssen, hängen uns China und di — www.wiwo.de
Riesen Aufschrei beim Abrechnungsbetrug bei den Testzentren — vollkommen berechtigt und richtig. Aber warum keiner bei den zahlreichen Sicherheitslücken und Datenschutzverstößen? Wiedermal lagen abertausende Daten offen im Netz rum — teilweise mit Ausweisnummer. Vermutlich checkt man erst die Bedeutung, wenn zig Identitäsdiebstähle stattfinden und man sich wundert, woher die Inkassobriefe kommen, obwohl man doch nichts bestellt hat. Die Ministerien haben keine Vorgaben gemacht, zum Beispiel die Vorlage eines Datenschutzkonzepts. Prüfungen durch die Aufsichtsbehörden finden — auch aufgrund von Personalmangel — kaum statt. Wie mit den sensiblen Daten umgegangen wird, wie sie gespeichert werden, wenn das Testzentrum schließt — niemand weiß es. Dabei müssen sie zur Abrechnungsüberprüfung bis 2024 gespeichert werden.
Daten waren unzulänglich geschützt: Weitere Sicherheitslücke bei Testzentren | tagesschau.de — www.tagesschau.de
WHAT TO HEAR
Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen? | ARD Audiothek — www.ardaudiothek.de
Cui Bono erzählt die Geschichte von Ken Jebsen: dem aufstrebenden Radiomoderator, der zu einem der wohl einflussreichsten Verschwörungsideologen Deutschlands wurde. Wie konnte es dazu kommen? Der Podcast erzählt aber auch die Geschichte vom Einfluss der Algorithmen, vom Erfolg von Verschwörungsideologien, vom erstarkenden Populismus in unserem Land — und wie all diese Kräfte sich in Zeiten von Corona gegenseitig verstärken und unsere Gesellschaft destabilisieren und beschädigen wollen. Cui Bono ist eine Koproduktion von Studio Bummens, NDR, rbb und K2H. (Der rbb hat die Folgen 1,3,4,5,6 mitproduziert)
WHAT TO WATCH
Panorama — die Reporter: Geheimes Netzwerk: Das rechte Phantom | Video der Sendung vom 23.06.2021 21:50 Uhr (23.6.2021) mit Untertitel — www.ardmediathek.de
Geheimes Netzwerk: Das rechte Phantom | Video | “Politik ist wie ein gewaltiges Schachspiel”, “Alle bedienen sich”, “Die AfD ist keine Partei, mehr eine Versorgungschance für Gescheiterte Existenzen” — der Mann, der solche Zeilen schreibt, war nie Mitglied der AfD. Und doch gilt er vielen in der Partei als derart tief vernetzt und einflussreich, dass sie Angst vor ihm haben. Manche nennen ihn einen “heimlichen Strippenzieher”, andere gar “Königsmacher”. Denn der Unternehmer Tom Rohrböck soll seit Gründung der AfD massiv Einfluss auf führende Politikerinnen und Politiker und die personelle Ausrichtung der Partei genommen haben.
WHERE TO GO
Preisverleihung: Ehrenpreis für digitales Bürgerengagement — LOAD e.V. — www.load-ev.de
Zusammen mit der Thomas-Dehler-Stiftung verleihen wir einen Preis für ehrenamtliches Engagement für ein freies Internet. Mit Reden von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Peter Smits (Piet Smiet) und mir. Vor Ort in München und live im Netz. Mit anschließendem Q&A mit den Preisträgern von #SaveTheInternet
Am 4. Juli 2021 — Anmeldung zu den einzelnen Veranstaltungen über den Link
WHAT TO READ
Länder wollen Zwangsfilter in allen Betriebssystemen — Verbände laufen Sturm.
Digitale Gewalt: Wir lassen uns nicht mundtot machen!
Paul-Ehrlich-Institut überlastet: Das Daten-Desaster (Ich tracke trotzdem weiter!).
Open-Data-Gesetz: Kein Anspruch auf Offenheit.
FDP-Abgeordnete erheben Verfassungsklage wegen Staatstrojaner.
Ban biometric surveillance in public to safeguard rights, urge EU bodies.
WHAT I LIKED
SHARE IT!
Ich freue mich, wenn Du diesen Newsletter weiterleitest oder ihn auf Deinen Social-Media-Kanälen teilst! Ebenso freue ich mich, wenn Du mich und meine Arbeit mit monatlich 3,50, 5 oder 10 Euro über Steady unterstützen magst.