Cyber-Wende — Issue #93
Die Sonne scheint, der Frühling kommt. Das ist gerade eines der wenigen positiven Dinge, an denen man sich festhalten kann. Die…
Die Sonne scheint, der Frühling kommt. Das ist gerade eines der wenigen positiven Dinge, an denen man sich festhalten kann. Die Corona-Infektionszahlen brechen einen Rekord nach dem anderen — es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es wirklich mal jeder hatte (fingers crossed, dass ich noch eine Weile verschont bleibe, gute Besserung an alle, die gerade leiden). In Europa tobt noch immer ein Krieg. Wir haben so viele Menschen in Europa auf der Flucht, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Seit dem Jahresanfang von 2020 (noch vor der Pandemie, man erinner sich!) denken wir “jetzt wird’s nun aber wirklich nicht mehr schlimmer kommen” — und jedes Mal wird es schlimmer. Die Menschen hamstern wieder in Deutschland, dabei ist es völlig unnötig. Und doch ist es wohl mehr als verständlich, dass man sich sorgt. Wer tut es nicht?
Doch so schlimm die eigenen Zukunftsängste sind — nichts ist so schlimm, wie einen Krieg erleben zu müssen, flüchten zu müssen, das normale Leben von einem Tag auf den anderen hinter sich zurücklassen zu müssen. Man kann es sich nicht annähernd vorstellen. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt all den Menschen, die unsere Hilfe benötigen, auch schnell und unkompliziert helfen. A
ber es ist ebenso wichtig, auf so vielen Politikfeldern nun vorausschauender zu handeln. Nicht nur die Abhängigkeiten von Energie sollten uns sorgen. Der digitale Raum birgt ebenfalls enorme geopolitische Herausforderungen, die unsere Freiheit bedrohen. Es braucht daher Zeitenwende, die auch eine Cyber-Wende beinhaltet. Tyson Barker und Heli Tiirmaa-Klaar fordern diese. Darüber handelt auch der erste Text.
Zuvor aber noch ein paar Empfehlungen zur Lage in der Ukraine:
‘Why? Why? Why?’ Ukraine’s Mariupol decends into despair. Journalist:innen von AP News harren in Mariupol aus und beschreiben das Unbeschreibbare.
Putins Kriege: Eine Chronik des Grauens von Stephan Anpalagan.
So peinlich war der Bundestag noch nie. Hendrik Wieduwilt zur fehlenden Debatte nach dem Auftritt Wolodymyr Selenskyjs im Deutschen Bundestag.
Die gefährliche Illusion über Chinas mögliche Vermittlerrolle von Anna Marti.
Auf eine schöne Sache möchte ich Euch aber zum Abschluss noch aufmerksam machen: Prof. Dirk Heckmann verleiht wieder den For..Net Media Award. Mit dem ersten wurde ich ausgezeichnet, jetzt, beim dritten, darf ich Teil der Jury sein. Bewerbt Euch selber oder nominiert jemanden, der oder die sich ehrenamtlich gegen Desinformation einsetzt. Bis zum 31. März!
Alles Liebe,
Ann Cathrin 🐣
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WHAT TO KNOW
Die Bundesregierung hat eine viel beachtete und diskutierte Zeitenwende ausgerufen. In der Rede von Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag erwähnte er in einem Satz, dass man die Resilienz gegen Cyberangriffe stärken wolle. Im gleichen Absatz wurden auch die Gefahren von Desinformation für unsere Gesellschaft erwähnt und dass kritische Infrastrukturen gestärkt werden müssen. Immerhin ein Absatz zum Thema — generell habe ich momentan nicht das Gefühl, dass die Relevanz der digitalen Sphäre für heutige und zukünftige Konflikte erkannt wird. Das ist mir in den letzten Wochen mehrfach aufgefallen — dazu unten mehr.
Tyson Barker und Heli Tiirmaa-Klaar fordern daher in diesem Beitrag, dass es auch eine “Cyber-Wende” geben müsse. Sie fordern daher drei Dinge: 1. Müsse sich der Westen viel besser auf die sicher intensiver werdenden Cyber- und Informations-Operationen im Graubereich zwischen friedlichem Zusammenleben und kriegerischer Auseinandersetzung vorbereiten. Die Gefahren von Cyberangriffen auf Infrastrukturen werden nicht geringer. 2. Die EU, NATO und andere, gleichgesinnte Staaten sollten Tools zur digitalen, verschlüsselten Kommunikation fördern — ebenso VPN-Netzwerke. Ebenso Satelliten, die Internet zur Verfügung stellen können, gerade in Krisen (das muss kein Krieg sein, das kann auch Hochwasser sein). Elon Musk hat ja bekanntlich sein Satellitennetzwerk zur Verfügung gestellt. Die EU ist in diesem Bereich recht hinterher und sollte auch hier nicht zulassen, dass es autoritäre Staaten sind, die Zugang über ein Satellitennetz zur Verfügung stellen könnten, bzw. kontrollieren könnten. 3. Muss die EU besser mit Staatspropaganda wie der aus dem Kreml umgehen. Die aktuellen Sanktionen gegen RT und Sputnik sind recht problematisch. Es gibt dafür nicht wirklich eine gesetzliche Grundlage (dazu David Kaye). Vielmehr ist es eine politische Entscheidung gewesen. Die beiden fordern daher, dass sich z.B. im Rahmen der G7 die Staaten dazu verständigen sollten, was eigentlich Kriegspropaganda ist (dazu auch Prof. Tobias Keber).
All das ist meiner Meinung nach nur ein Bruchteil, der Herausforderungen, die auf uns zukommen. Zu meinen, der Informationskrieg des Kremls sei hier “bei uns” im Griff und die Sanktionen gegen Staatsmedien würden helfen, kommt ebenfalls zu kurz; ist sogar recht naiv. Die Propaganda des Kremls fruchtet überall auf der Welt. Und wer sich mal ansieht, wie die einzelnen Staaten in der Generalversammlung abgestimmt haben, sollte merken, wie wackelig all das ist. Natürlich kann man sich darüber freuen, wie wenige Staaten an der Seite Russlands standen. Wer sich aber enthielt, sollte uns mehr als beunruhigen.
Da es hier auch um den Schutz kritischer Infrastrukturen ging, muss ich natürlich noch auf das Interview mit Manuel Atug hinweisen. Einer der stärksten Verfechter einer strikt defensiven Cybersicherheitsstrategie. Er spricht hier über den eher mäßigen Cyberkrieg im aktuellen Fall (Barker und Tiirmaar-Klaar weisen in ihrem Text zurecht daraufhin, dass aktuell wenig Cyberangriff zu verzeichnen sind, weil sie viel zu teuer und aufwändig ist. Wer eh schon bombt, braucht sich nicht hinter sowas zu verstecken. Bomben sind — so zynisch es klingt — effektiver und günstiger) und warum die Forderungen nach “Hackbacks” zwar Aufmerksamkeit generieren, wirklich kluges (politisches) Handeln aber eben für weniger Schlagzeilen sorgen würde:
ZEIT ONLINE: Der Schutz vor einem Hacker ist doch was völlig anderes als der Schutz vor einem Starkregen.
Atug: Gar nicht, viele Antworten darauf sind gleich. Und sie sind eher langweilig, die Basics eben. Hat man ein Back-up aller Daten gemacht? Hat man die offline gespeichert? Am besten an einem fernen Ort und so gelagert, dass niemand leicht daran herummanipulieren kann? Sind die Back-ups frisch, werden sie also etwa täglich gemacht, und kann man sie schnell genug wieder herstellen, bevor großer Schaden entsteht? Wenn ich zwei Wochen zum Wiederherstellen brauche, aber nach zwei Tagen den Laden wegen Insolvenz zumachen muss, nützt mir das schönste Back- up eben auch nichts. Das ist aber alles so langweilig, dass es keiner hören wird; dann wird lieber davon gesprochen, feindliche Hacker wegzucybern.
Ich hoffe daher sehr, dass die Ampel-Regierung bei ihrem im Koalitionsvertrag festgehaltenen Bekenntnis zum Nein zu Hackbacks bleibt. Zu Manuel Atugs Aussage im Interview “Ich sehe da viel Technologiehype, Leuchtturmprojekte, Schaufenstermaßnahmen, mit denen sich jemand profiliert.” Kann ich übrigens nur beipflichten und das Buch “Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren” empfehlen.
Deciphering Russia’s Wartime Cyber Campaign | DGAP — dgap.org
Eine Sache trieb mich letzte Woche sehr um: Der Wunsch des Ausschlusses Russlands aus dem Internet. Daher habe ich für die Friedrich-Naumann-Stiftung eine kurze Analyse dazu geschrieben, warum der Wunsch zwar auf den ersten Blick verständlich war, es aber richtig war, dass die ICANN ihm nicht nachgekommen ist (auch wenn sie gar nicht dazu in der Lage wäre). Sich in einem Krieg neutral zu verhalten, ist immer falsch. Ich argumentiere in diesem Beitrag aber, dass (abgesehen von der technischen Unmöglichkeit) das Verhalten der ICANN nicht neutral im Sinne von “es ist uns egal” war, sondern dass sie vielmehr mit ihrer Neutralität Position und Haltung bezogen haben. Denn nur wenn man für die technische Neutralität des Netzes eintritt, kann man Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sichern.
Ich schreibe hier ja nicht zum ersten Mal von der geopolitischen Relevanz des Internets. Sie muss endlich viel, viel stärker beachtet werden und ich hoffe wirklich, dass langsam ein Gespür dafür aufkommt, dass die globale Internet Governance enorm wichtig ist für eine freiheitliche Zukunft. Russland und China sind beide dabei nicht nur eigene nationale Internete aufzubauen (der Economist hat hier die Maßnahmen Russlands eindrücklich beschrieben und ich habe endlich das Buch “The Red Web” von Andrei Soldatov und Irina Borogan (sollte dringend mal übersetzt werden!) angefangen zu lesen, das ich mir direkt kaufte, als ich sie vor vier Jahren in Moskau kennenlernte, es seitdem aber unberechtigterweise in meinem Bücherregal unangefasst rumstand). Beide Staaten wirken nicht nur im Globalen Süden auf Abhängigkeiten der dortigen Staaten hin (siehe Abstimmungsverhalten in den UN), sondern arbeiten auch strategisch daran, dass ihre technischen Standards globale Standards werden. Dass die wenig mit Freiheit und Demokratie zu tun haben, kann man sich denken. Standardsetzung ist längst nicht mehr nur technisch, sondern hochpolitisch. Sie darf uns nicht mehr egal sein. Unsere Naivität müssen wir endlich ablegen.
ICANN lehnt Antrag der Ukraine auf Sperrung russischer Internet-Domains ab — Blog: Krieg in Europa — blog.freiheit.digital
Dieser sehr spannende Text kritisiert, dass wir Putins Krieg gegen die Ukraine den “TikTok-Krieg” nennen. Es ist nicht der erste Krieg, der nach einem Medienformat genannt wird:
The history of war is also a history of media, and popular memory associates specific wars with different media formats. Vietnam was the first television war. The first war in Iraq, in 1991, was the first cable-news war, or the first CNN war. (The network famously pulled off a “coup” by successfully broadcasting live from Baghdad.) Twelve years later, the American invasion of Iraq was “supposed to be CNN’s war” again, but instead became the Fox News war. It was also called “the YouTube war,” in which, as one journalism professor put it, soldiers made “personal and at times shockingly brutal” homemade videos of gunfights, suicide bombings, and other violence, many set to rap or metal music. MTV turned some of this footage into a 2006 documentary titled Iraq Uploaded; then, the following spring, the U.S. military blocked troops from accessing YouTube on military computers. So the YouTube war ended. The Iraq War continued.
Und während auf Twitter einige behaupteten (ich finde die Tweets nicht mehr, aber sie gingen viral), dass dies der erste Krieg wäre, den wir quasi live im Internet verfolgen können, wird schon wieder vergessen, wie westlich-zentriert dieser Blick ist. Allein der Krieg in Syrien, der just ins elfte Jahr überging, konnte auf diversen Plattformen live verfolgt werden. Von (missglückten) Revolutionen, insbesondere im Nahen Osten, ganz zu schweigen. Auch TikTok wurde zuvor vielfach in anderen Konflikten der Welt eingesetzt, um über die Katastrophe, die die einzelnen Menschen erlebte, hautnah zu berichten — gerade von den Nutzer:innen selber. Wir schenkten diesen Konflikten nur nicht die notwendige Aufmerksamkeit.
Der Text argumentiert, dass das Argument, TikTok bringe eine nie dagewesene Nähe und Intimität zum Krieg und dessen Opfern, immer schon gebracht wurde — seit Beginn der Fotografie. Es gäbe aber keine Rückschlüsse darauf, dass diese angebliche Nähe wirklich Auswirkungen auf die Haltung von Menschen außerhalb zu einem Krieg habe. So hätte es deutlich mehr Filmaufnahmen während des Vietnamkriegs gegeben, als zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Die zu letzterem wurden aber von deutlich mehr Menschen konsumiert. Die Ablehnung des Vietnamkriegs in der Bevölkerung hinge, so der Text, nicht mit der “Nähe” zum Kriegsgeschehen durch Aufnahmen zusammen. Zudem komme außerdem, dass auch nur ganz wenige Menschen die Inhalte auf TikTok sehen. Zum einen, weil sie die Plattform gar nicht nutzen, zum anderen, weil sie der Algorithmus einem gar nicht einspielt.
Whether this really is “the first TikTok War,” wishful thinking colors the very claim. People have good reason to look for some new, crucial difference between the images of one war and those of all other wars that came before. If something is new, then maybe we’ve escaped the same old story in which lots of people die for no reason. If something is new, then maybe it can be different. But to look for that difference in the offerings of a technology company is obviously sad and misguided. In years to come, we will surely see, I don’t know, the first Twitch war, or the first Discord war, or the first war on some new platform that hasn’t even been developed yet.
The Myth of the ‘First TikTok War’ — The Atlantic — www.theatlantic.com
WHAT TO HEAR
Inside Kabul Luftbrücke | Podcast on Spotify — open.spotify.com
Listen to Inside Kabul Luftbrücke on Spotify. In „Inside Kabul Luftbrücke“ erzählt der Afghanistan-Experte und Autor Emran Feroz die Geschichte hinter einer der krassesten DIY-Evakuierungsaktionen aller Zeiten. Als die Taliban im Spätsommer 2021 Kabul zurückerobern, sind die meisten Regierungen erstmal überfordert. Viele Menschen in Afghanistan haben Angst um ihr Leben und versuchen alles, um das Land zu verlassen. Es gehen Bilder um die Welt, die wir nie vergessen werden: Menschen klammern sich an startende Flugzeuge. Ein Baby wird über einen Stacheldrahtzaun einem Soldaten überreicht. In all diesem Chaos startet die Initiative „Kabul Luftbrücke“ rund um die Journalistin Theresa Breuer eine einmalige Aktion: Mit einem selbst gecharterten Flieger will sie dort helfen, wo offenbar staatliche Institutionen versagen. Im Team der Luftbrücke sind erfahrene Journalist*innen, die ihre ganze Aktion selbst dokumentiert haben, sich in den schwierigsten Situationen selbst aufgenommen haben — und dieses Material ist erstmals in diesem Podcast zu hören. Wir sind dabei, wie sie erfahren, ob ihr Plan funktioniert — und welche Probleme sie lösen müssen. Denn: Wie kann es sein, dass die westliche Welt die Menschen in Afghanistan so im Stich lässt? Inside Kabul Luftbrücke” — ein sechsteiliger Doku-Podcast, jeden Donnerstag, nur auf Spotify.
WHAT TO WATCH
Bei Arte gibt es wirklich sehr hervorragende Dokumentationen zum Hintergrund und aktuellen Geschehen beim Krieg gegen die Ukraine.
Putin — Die Rückkehr des russischen Bären — Die ganze Doku | ARTE — www.arte.tv
Nach 20 Jahren an der Macht setzt Wladimir Putin mit Russlands Comeback auf der großen Bühne der Weltpolitik seine geopolitische Strategie um. Bereits 2007 hatte er sein Vorhaben angekündigt — und dennoch scheint es die westlichen Regierungen völlig unvorbereitet zu treffen. Was steckt hinter dieser Neuauflage des Kalten Krieges?
WHERE TO GO
Fish Bowl: Endlich freie Fahrt für Digitalpolitik? Ausblick auf die digitalpolitische Agenda der Ampel
events.basecamp.digital
Die Digitalisierung war eines der großen Themen im Wahlkampf des vergangenen Jahres. Die Erwartungen an die neue Regierung sind dementsprechend hoch. Der Koalitionsvertrag verspricht: Digitalisierungsdefizite in Verwaltung und Bildung sollen aufgeholt werden. Mit einem verbesserten Zugang zu Daten für Wirtschaft und Forschung sowie die zukunftsfähige Versorgung mit breitbandigem Internet möchte die neue Regierung die Digitalisierung in Deutschland vorantreiben.
WHAT TO READ
100 Tage Bundesregierung: Große Vorhaben und große Baustellen.
Europas digitale Bürgerrechtsorganisationen gegen neue Form der Massenüberwachung.
Brazilian court orders Apple and Google to block Telegram over disinformation.
Ukraine has started using Clearview AI’s facial recognition during war.
Mit Jörg Schieb habe ich für die Aktuelle Stunde des WDR über die doppelten Standards gerade gesprochen, wie wir sie z.B. bei der Bewertung von Telegram sehen.
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